Überall gibt es für das Kfz-Handwerk Tarifabschlüsse und seit Sommer 2,8 Prozent mehr Geld. Nur in Nordrhein-Westfalen nicht. Da stellen sich die Arbeitgeberverbände quer und sagen stur: nicht mit uns. Aber die IG Metall lässt nicht locker. Aus gutem Grund. Denn was passiert, wenn keine Tarifverträge mehr gelten, dafür gibt es schon erschreckende Beispiele.
Hinter schicken Glasfronten präsentieren die Autohäuser blank polierte Technikwunder auf vier Rädern. Nicht sichtbar sind die Arbeitsbedingungen, die sie Monteuren und Verkäufern bieten. Die würden oft eher zu schmuddeligen Hinterhofwerkstätten passen. "Früher", sagt Felix Kendziora, "gab es beim Lohn keine Ausschläge. Und keinen Neid. Alle Monteure ab einem bestimmten Alter waren in derselben Entgeltgruppe. "Früher - das ist noch nicht lange her bei den Autohäusern von Thüllen im Raum Aachen und Düren. Das entscheidende Jahr, in dem alles anders wurde, war 2008. Da stieg der Firmenchef aus der Tarifbindung aus.
Die Folgen sind jetzt für jeden spürbar. Alle verdienen weniger als Kollegen in Betrieben, die nach Tarif bezahlen. Aber auch bei Thüllen selbst wird die gleiche Arbeit jetzt unterschiedlich bezahlt. Es gibt drei Klassen von Arbeitnehmern. Zur ersten gehört Felix Kendziora. Der 60-Jährige ist einer von drei Monteuren in der Werkstatt am Standort Jülich, für die noch der IG Metall-Tarifvertrag nachwirkt, der bis 2008 galt. Er bekommt den Lohn, der damals imTarifvertrag stand: rund 2300 Euro. Von den Tariferhöhungen, die die IG Metall nach 2008 für das Kraftfahrzeuggewerbe durchgesetzt hat, gibt Thüllen keinen Cent an ihn weiter. Wäre der Betrieb noch tarifgebunden, hätte Kendziora mindestens 350 Euro mehr im Monat. Trotzdem gehört er zu einer privilegierten Gruppe.
Weil sie dem Druck des Arbeitgebers standgehalten haben, haben er und die zwei Kollegen, für die der frühere IG Metall-Tarif noch gilt, mit 35 oder 36,5 Stunden in der Woche die kürzesten Arbeitszeiten, erhalten zusätzlich 50 Prozent Urlaubs- und 50 Prozent Weihnachtsgeld und genießen 30 Tage Urlaub im Jahr. Andere Kollegen, die die gleiche Arbeit machen, bekommen zwar noch genauso viel Lohn, müssen dafür aber 41,5 Stunden arbeiten und erhalten statt Weihnachtsgeld einen Bonus, der vom Erfolg des Autohauses abhängt. Und dann gibt es noch die Jungen, die weder Weihnachts- noch Urlaubsgeld, noch Boni erhalten, 25 Tage Urlaub haben und 1680 Euro im Monat verdienen. Ihnen bleiben, wenn man ihre längere Arbeitszeit und das Monatsentgelt auf die Stunde umrechnet, rund 9,50 Euro. Eine Bezahlung hart an der Grenze zum Mindestlohn. So sieht der Unterschied zu früher aus.
Thüllen ist kein Einzelfall, sondern in manchen Regionen eher der Normalfall. Da ist zum Beispiel die Jacobs-Gruppe, ein großer Autohändler mit mehr als 700 Beschäftigten und 16 Standorten im Aachener Raum. Günter Jacobs und seine Söhne konnten sich 2012 über ein Umsatzplus im Neuwagengeschäft von acht Prozent freuen. Nach außen kultivieren sie ein soziales Image, unterstützen Kinderprojekte und den Karnevalsverein. Aber die Beschäftigten erhalten Löhne unter Tarif, arbeiten 42 Stunden und haben nur 24 Tage Urlaub.
Neinsager
So könnte es bald überall an Rhein und Ruhr aussehen, wenn es nach den Arbeitgeberverbänden dort geht. Die Tariflandkarte im Kfz-Handwerk wird zunehmend zerfleddert. Die Folgen: statt Gerechtigkeit und Fairness Willkür und Wildwuchs. Dieses Jahr hat die IG Metall für fast ganz Deutschland höhere Entgelte für das Kraftfahrzeuggewerbe ausgehandelt. Seit Sommer verdienen viele der rund 450 000 Arbeiter und Angestellten in Autohäusern 2,8 Prozent mehr Geld. Im Sommer 2014 kommen weitere 2,8 Prozent dazu. Nur in Nordrhein-Westfalen nicht. Dort tanzt die Innung aus der Reihe. Seit Juni erklärt der Kfz-Arbeitgeberverband stur: Wir machen nicht mit; wir wollen als Verband keine Tarifverträge mehr abschließen.
Tausende Beschäftigte haben inzwischen mit Aktionen vor Autohäusern versucht, sie wieder auf Tarifkurs zu bringen. Noch ist das Eis nicht gebrochen. NRW ist die Spitze des Eisbergs. Auch anderswo steigen einzelne Kfz-Betriebe aus der Tarifbindung aus. Dabei geht es auch anders. Im Autohaus Baggen, einem Familienbetrieb in Krefeld, haben die Beschäftigten die Tariferhöhung durchgesetzt. "So etwas geht, wenn die Belegschaft gut organisiert ist und dahintersteht", sagt Olaf Freystedt, Metaller bei Baggen. Fast 90 Prozent sind dort in der IG Metall.
Jasager
In vielen Firmen, die sich nicht an den Flächentarifvertrag binden, haben Beschäftigte und IG Metall es geschafft, Hausverträge abzuschließen. Sie sind tausendmal besser als das, was passiert, wenn Arbeitgeber schalten und walten können, wie sie wollen. Aber sie sind nicht die beste Lösung. Denn die IG Metall kann nicht in jedem einzelnen Betrieb einen Tarifvertrag erkämpfen - und auch noch überall gleich gute Ergebnisse erzielen. Vor allem, weil sie oft nicht genug Mitglieder hat, um Tarifkonflikte in den einzelnen Betrieben auszufechten.
Nur ein Flächentarifvertrag kann einheitlich für gleiche Löhne und Arbeitsbedingungen sorgen. Nur er verhindert also, dass sich die Autohäuser durch Lohndumping gegenseitig das Wasser abgraben und eine Kostensenkungsspirale auf dem Rücken der Beschäftigten in Gang setzen, an deren Ende es fast nur Verlierer gibt. Anders als die Kfz-Innung in NRW sehen die Handwerkskammern durchaus die Vorteile von Tarifverträgen. "Eine gelebte und starke Tarifpartnerschaft ist angesichts aktueller Herausforderungen im Handwerk unerlässlich ", erklärte Otto Kentzler, Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks in einem Interview der metallzeitung. Mit den Herausforderungen meinte er vor allem, dass es dem Handwerk in Zukunft schwerfallen wird, noch genug qualifizierte Leute zu finden. "Wenn die Löhne und Arbeitsbedingungen nicht stimmen, gehen viele Junge in die Industrie", hat Felix Kendziora erlebt. "Dort werden sie oft mit Kusshand genommen."
Die IG Metall geht in Nordrhein-Westfalen tarifpolitisch jetzt einen neuen Weg, den des sogenannten mehrgliedrigen Tarifvertrags. Sie will die Tariferhöhungen - 2,8 Prozent rückwirkend ab August dieses Jahres und noch einmal ab August 2014 - zuerst mit großen Unternehmen und Niederlassungen von Autokonzernen durchsetzen und dann Zug um Zug in allen Betrieben umsetzen. Dafür könnte die IG Metall auch zu Urabstimmung und Streik aufrufen